Der geneigte Leser weiß, dass ich mich bereits seit längerem mit diesem Thema beschäftige, zugegebenermaßen durchaus auch aus einem eigenen Interesse heraus. So hatte ich bereits im Januar 2011 postuliert, dass einzelne Kommunen die Nachfrage nach Kindertagesstätten durch exorbitant hohe Kita-Gebühren künstlich niedrig halten wollen.
Mittlerweile wurden in meiner Heimatstadt die Gebühren zum September diesen Jahres "moderat" erhöht, generell um 10%. Diese moderate Erhöhung bedeutet, dass für die Ganztagesbetreuung in der Kindertagesstätte für Ü3jährige Kinder 399 € in der höchsten Einkommensgruppe (Haushaltsbrutto bei 55.000 €) fällig werden, für Kinder zwischen dem vollendeten ersten und dritten Lebensjahr der 1,5fache Satz und für Kinder unter einem Jahr der doppelte. In unserem konkreten Fall bedeutet das, dass wir für die Ganztagesbetreuung 598,50 € zzgl. einer Verpflegungspauschale von 50 €, gesamt also 648,50 € bezahlen müssten. Auf der Homepage der Stadt wird dies unter anderem dadurch gerechtfertigt, dass die letzte Erhöhung im Jahr 2006 stattgefunden habe und die Stadt sich auf diesem Gebiet überproportional engagiere und das Angebot weiter ausbaue, so OB Ralf Eggert.
Eine ähnliche Argumentation habe ich im persönlichen Schriftverkehr mit dem Oberbürgermeister zu hören bekommen. Im März diesen Jahres titelte der Schwarzwälder Bote "Sogar die Eltern haben Verständnis". Nein, lieber Schwarzwälder Bote und Herr Oberbürgermeister, haben Sie nicht - zumindest wir nicht. Nach dieser plakativen Aussage habe ich eine Anfrage an OB, Gemeinderat und Elternbeirat gestellt. Ich bat unter anderem um Aufklärung, warum Calw am oberen Ende der Skala in Baden-Württemberg liegt. Zum Vergleich die zum März 2012 recherchierten Daten zur Betreuung U3jähriger:
Calw: 544,50 €
Pforzheim: 310,00 €
Sindelfingen: 264,00 €
Böblingen: 260,00 €
Stuttgart: 167,00 €
Der gesamte Text ist hier nachzulesen. Ich erhielt tatsächlich direkt einen Tag später eine Antwort vom OB. Ob diese Anfrage im Gemeinde- und Elternbeirat diskutiert wurde, entzieht sich meiner Erkenntnis. Die Grundargumentation Herrn Eggerts ist folgende:
1. im Bereich der "Verlängerten Öffnungszeiten" also der Halbtagesbetreuung bis 6 Stunden, liege man deutlich unter dem Landesrichtsatz
2. für Ganztagesbetreuung gibt es keinen Richtsatz, jede Kommune könne dies grundsätzlich selbst festlegen
3. in Calw gab es in den vergangenen Jahren sehr hohe Investitionen, die Schere zwischen Entgelten und Kosten klaffe immer weiter auseinander
4. optimales Personal- und Raumangebot, qualitativ hochwertiges Mittagessen habe seinen Preis
5. die Stadt Calw sei eine nur mit geringen Steuereinnahmen gesegnete Kommune
Hier die Antwort im Originaltext.
Auf den ersten Blick erscheint die Argumentation der Stadt Calw schlüssig, sofern man gnädig darüber hinweg sieht, dass die "qualitativ hochwertigen Mahlzeiten" ohnehin gesondert abgerechnet werden und kein Bestandteil der Kita-Gebühren sind. Bei näherem Hinsehen allerdings wird es skurril. Unterm Strich wird eigentlich nichts anderes ausgesagt, als dass die Stadt Calw dafür, dass sie einer gesetzlichen Verpflichtung nachkommt, die Kosten auf die Bürger umlegt - und zwar wesentlich stärker als die meisten anderen Kommunen im "Ländle". Wir erinnern uns, ab August 2013 haben die Eltern U3jähriger Kinder einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz. Dass hierfür Mehrkosten entstehen, das ist völlig klar. Dass das gegenfinanziert sein will, ist auch nachvollziehbar. Die Kita-Gebühren allerdings in Höhen zu katapultieren, die es Normalverdienern faktisch unmöglich machen, einen Kita-Platz in Anspruch zu nehmen, entbehrt schlussendlich nicht einer perfiden Logik. Nachfrage gering halten und somit den kommunalen Haushalt entlasten. Dass die Region damit unattraktiv für Familien wird, das wird billigend in Kauf genommen. Ob das eine geeignete Maßnahme ist, die Steuereinnahmen der Kommune zu erhöhen, darf dann doch stark bezweifelt werden.
Absurd wird es in meinen Augen, sobald man nun nicht nur interkommunale Vergleiche in Baden-Württemberg anstellt, sondern vor dem Hintergrund des Länderfinanzausgleichs betrachtet, dass es durchaus Bundesländer gibt, in denen die Kinderbetreuung durch Landesgesetze vorgeschrieben kostenfrei angeboten wird. Dies sogar mit einklagbaren Rechtsanspruch, wie ein Urteil in Rheinland-Pfalz letzte Woche bestätigte. Hier muss die Stadt Mainz, da sie keinen Krippenplatz zur Verfügung stellen kann, die Kosten für die private Kinderbetreuung vollumfänglich übernehmen. Interessanterweise werden kostenfreie Kinderbetreuungen ausschließlich in Bundesländern angeboten, die zu den sog. "Nehmerländern" im Länderfinanzausgleich zählen. Der Stammtisch in Baden-Württemberg und Bayern schreit bei so etwas empört auf: "Da bleibt also unser Geld! Unverschämtheit" und sofort entflammt die Föderalismusdebatte erneut. Ich hingegen stelle die Frage: Haben die entsprechenden Bundesländer einfach eine bestimmte Tatsache erkannt, dass sie trotz desolater Haushaltslage Geld in Familien investieren?
Die Politik leistet sich einen Schildbürgerstreich nach dem anderen. Der kommende Rechtsanspruch im August 2013 ist seit langem bekannt. Bereits damals war es ein Fehler, sich nicht intensiver mit der Finanzierung auseinanderzusetzen. Vor der unbequemen Fragestellung der Gegenfinanzierung wurde das Projekt verschlafen. Es wurde nicht dafür gesorgt, in ausreichendem Maße Erzieher/innen auszubilden und das Berufsbild aufzuwerten. Es wurde nicht bereits vor fünf Jahren mit der Planung für neue Kitas begonnen. Strategische Zielsetzungen in diesem Bereich wurden offensichtlich vielfach völlig vergessen. Und was schlägt nun der deutsche Städtetag vor? Was ist der nahe liegende Schluss? Richtig, bevor die Bürger nun auf die Idee kommen, ihre Rechtsansprüche durchzusetzen und einzuklagen, will man kurzfristig das Gesetz ändern. Jahrelang wurde geschlafen - und der Bürger muss erkennen, dass Gesetze nun mal eben doch kein Garant dafür sind, im Land und im Staat einen verlässlichen Partner zu haben und muss die Zeche bezahlen.
Neben der These, dass die Nachfrage nach Kita-Plätzen in meiner Heimatstadt künstlich gering gehalten wird, postuliere ich zusätzlich heute eine weitere: Der demographische Wandel arbeitet für die Politik. Wenn die Prognosen der Soziologen Recht behalten und sich die Geburtenrate nicht erhöht, wenn weiterhin eine Abwanderung vom Land in die Metropolregionen stattfindet, auf einen Rentennehmer irgendwann weniger als zwei Erwerbstätige kommen - dann führt das aufgrund der zwingend notwendigen Kürzungen in jedem Bereich staatlicher Leistung zu einer Besinnung auf alte Traditionen. Bürgerschaftliches und ehrenamtliches Engagement wird wieder zunehmen müssen, um die Lücken in der Daseinsvorsorge der Gemeinschaft, die der Staat hinterlassen wird, zu schließen. Es wird wieder vermehrt Mehrgenerationenhäuser geben, da die Pflege unserer alten Familienangehörigen unbezahlbar wird. Somit hat sich das Kita-Problem ohnehin erledigt. Vor diesem Hintergrund macht auch auf einmal das Betreuungsgeld wieder Sinn - und auch die Politik meiner Heimatstadt: Man hat den Untergang erkannt, weiß, dass es die Nachfolger in Politik und Verwaltung betreffen wird und hat resiginierend aufgegeben. Die Maxime lautet: Nach mir die Sintflut.
Das, meine lieben Leser, ist wahre nachhaltige Politik!
P.S.: Und wir suchen derzeit in der Metropolregion Stuttgart ein Haus mit barrierefreier Erdgeschoss- oder Einliegerwohnung für meinen Schwiegervater zur Miete. Angebote bitte an die Impressum angegebene Email-Adresse.
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